Von Texten und Traditionen

Übersetzungen als Schlüssel zur China-Kompetenz

27. März 2024

Trotz der regelmäßigen Berichterstattung über politische und wirtschaftliche Entwicklungen in China bleibt das tiefere Verständnis für die Kultur des Landes, seine Geschichte und die aktuellen intellektuellen Debatten auf der Strecke. Ein Forschungsprojekt am mpilhlt übersetzt zeitgenössische chinesische Texte ins Deutsche und will sprachliche und kulturelle Brücken bauen. Bisher ungehörte Stimmen aus der chinesischen Wissenschaft werden so einem breiteren Publikum zugänglich und es entsteht ein differenzierteres Bild von China.

Wir sprachen mit der für die Projektkoordination verantwortlichen Wissenschaftlerin Sandra Michelle Röseler über die Bedeutung chinesischer Werke für Deutschland und Herausforderungen, die mit den Übersetzungen verbunden sind.

Frau Röseler, warum ist es wichtig, zeitgenössische chinesische Texte ins Deutsche zu übersetzen und zu veröffentlichen?

Das in Deutschland, aber auch andernorts in Europa und den USA vorliegende China-Bild neigt teils zu extremer Vereinfachung der historischen Gegebenheiten und Pfadabhängigkeiten von Chinas beispiellosem Wandel in den vergangenen 75 Jahren – das gilt gerade auch für Aufbau seines Rechtssystems. Unser Blick richtet sich dabei jedoch üblicherweise auf signifikante politische Entscheidungen nicht hingegen auf die breite Landschaft intellektueller Debatten, die Kultivierung chinesischer Wissenschaftstraditionen und deren Anbindung an Diskurse innerhalb der chinesischen Gesellschaft.

Welche Perspektive sollten wir einnehmen, wenn wir China besser verstehen wollen?

Wenn wir China wirklich besser verstehen wollen, dann kann eine Einordnung aktueller Geschehnisse nur in einem breiten historischen Kontext erfolgen, in welchem lokale Entwicklungsstränge in einer globalen Erzählung zusammenführt werden. Eine solche historische Betrachtungsweise sollte dabei insbesondere das intellektuelle Gefüge gewachsener Selbstauslegungstraditionen in den Blick nehmen. Aktuelle Fragen wie zum Beispiel nach dem chinesischen Souveränitätsverständnis gehören hier ebenso dazu wie historisierende Betrachtungen sich verändernder Ordnungsstrukturen, so etwa das Aufeinandertreffen von im dynastischen China praktizierten Tributsystem mit dem orientalistisch-kolonialistisch tradierten Nationalstaatsgedanken im 19. Jahrhundert.

Wer die Neujahrsgala am 9. Februar 2024 verfolgt hat, wird die hinter der reichhaltigen Darbietung an Tanz und Gesang der verschiedenen Ethnien klare Botschaft der Stärkung nationalen Identitätsbewusstseins wahrgenommen haben. Doch was wissen wir über das kulturelle Selbstbewusstsein und Selbstauslegungstraditionen der chinesischen Nation und seiner Gesellschaft? Ein tieferer Einstieg in vorherrschende intellektuelle Debatten hierzu bleibt der breiteren Öffentlichkeit in Deutschland - akademisch wie nicht akademisch - in Folge sprachlicher Barrieren zumeist verwehrt.

Mit unserem Kooperationsprojekt „China – Normen, Ideen, Praktiken“ möchten wir den bislang unbekannten Stimmen aus der chinesischen Wissenschaft und Gesellschaft mehr Gehör verleihen. Denn in Deutschland gibt es bislang kein vergleichbares Forum, um jene intellektuellen Debatten zu Geschichte und Gegenwart von Recht, Philosophie und Politik in China einem breiten Publikum zugänglich zu machen.

Welche Texte haben Sie gelesen, um China besser zu verstehen?

Einen guten juristischen Einstieg bietet Professor Bu Yuanshis Klassiker „Einführung in das Recht Chinas“. Mein erster literarischer Streifzug durch China war der Roman《活着》“Leben“ von Yu Hua; das Geschenk einer chinesischen Kollegin zum Abschied nach meinem Auslandsjahr in Nanjing hat ein für mich eindrucksvolles Bild der wechselhaften Geschichte im modernen China gezeichnet.

Für ein weitergehendes Verständnis der chinesischen Zeitgeschichte (insbesondere ab Reform und Öffnung seit 1978) bevorzuge ich die Lektüre von Jubiläumsbänden, die persönliche Erinnerungseinschübe mit historischen Erzählungen verbinden und eine Übersicht über wichtige Materialien geben. Derartige Bücher sind ein erster Schritt, um sich den von uns im Department Duve praktizierten wissenshistorischen Verständnisses einer Rechtsgeschichte als Geschichte der Erzeugung von Normativitätswissen quellentechnisch anzunähern. Als ebenso hilfreich habe ich den Blick in gesammelte Werke oder biographische Darstellungen von einzelnen Rechtswissenschaftlern empfunden, um sich über diese Wissensakteure einen vertieften Überblick verschaffen zu können.

Die im Rahmen unseres Kooperationsprojekts ausgewählten Texte bieten in diesem Zusammenhang eine hilfreiche Unterstützung an, um sich auch sprachlich sehr anspruchsvolle Texte ohne sprachliche Barriere zu erschließen. Diese Bücher sind intellektuelle Schlüssel, um China von innen heraus besser zu verstehen.

Wie wurden die Monografien für die Übersetzung ausgewählt, und warum sind sie für die aktuelle Diskussion über Recht und Politik in China relevant?

Die Auswahl der chinesischen Werke sowie der Übersetzer*innen obliegt einer unabhängigen Experten*innenjury (Anm. d. Red: Sabine Dabringhaus, Thomas Duve, Hans van Ess, Graf von Kalnein, und Zhiyi Yang). Die Jury forciert dabei vornehmlich Texte von jenen chinesischen Intellektuellen, die aus der chinesischen Innenperspektive eine wichtige Stimme in den aktuellen Debatten darstellen. Ein weiteres Auswahlkriterium ist dabei auch, dass sich diese Texte grundlegenden Fragen von Recht und Politik in China vorzugsweise in historischer Perspektive widmen. Es geht letztlich darum, das reichhaltige intellektuelle Spektrum der chinesischen Wissenschaftstradition und gesellschaftlichen Diskursen möglichst divers abzubilden, und gerade auch Stimmen aus der Peripherie zwischen offiziellen Stellungnahmen einerseits und kritischen Stimmen vor allem aus dem Westen andererseits sichtbar zu machen. Das ist ein wichtiger erster Schritt, um zurückkommend auf Ihre erste Frage – ein nachhaltiges Verständnis für chinesische Selbstauslegungstraditionen und der Implikationen für vergangene, gegenwärtige und zukünftige Sachverhalte in Deutschland zu kultivieren. Hier kann der Aufbau einer nachhaltigen China-Kompetenz beginnen.

Welche Herausforderungen sind mit der Übersetzung von Texten aus dem Chinesischen ins Deutsche verbunden, insbesondere wenn es um komplexe rechtliche und politische Konzepte geht?

Bei der Übersetzung solcher intellektuell anspruchsvollen Texte ist immer eine Balance zwischen Lesbarkeit und Verständlichkeit einerseits und dem Erhalt der Authentizität und kontextuellen Verständlichkeit des Textes andererseits zu finden. Zu einem gewissen Grade erfolgt bei der Auswahl eines von mehreren möglichen deutschen Begriffen immer auch eine Interpretation des zu übersetzenden Textes. Die Verantwortung, die jede(r) Übersetzer*in mit ihrer/seiner Begriffsprägung trägt ist daher nicht zu unterschätzen. Umso wichtiger ist es, bei der Übersetzung solcher komplexer (rechts-) historischer und politischer Texte, wie sie unsere Reihe zum Gegenstand hat, die Übersetzung von zentralen Konzepten, intellektuellen Strömungen etc. in einen unterstützenden wissenschaftlichen Diskurs einzubetten, den Übersetzer*innen den Austausch mit den sinologischen Betreuer*innen und den jeweiligen Autoren zu ermöglichen und diesen Diskurs wiederum im erläuternden Fußnotenapparat abzubilden.

Wie könnte die breitere Verfügbarkeit und Rezeption dieser übersetzten Texte dazu beitragen, das Bild von China in der deutschen Öffentlichkeit zu prägen und zu nuancieren?

Nuancieren ist ein wichtiges Stichwort, wenn es um das stark vereinfachte China-Bild geht, das nicht nur in den deutschen Medien vorherrscht. Im Lichte der heutigen globalisierten Welt, in der wir leben, müssen wir uns bewusst sein, dass über unsere Zukunft zu einem gewissen Teil auch in Peking entschieden wird. Die Kategorisierung Chinas als systematischer Rivale etc. signalisiert der deutschen Öffentlichkeit von vorherein ein Desinteresse und eine Mentalität der Abschottung gegenüber China, die uns intellektuell wieder in die orientalistischen Modernitätsdiskurse der imperialen Mächte gegenüber China im 19. Jahrhundert katapultiert. Ich wünsche mir, dass möglichst viele deutsche Bürger*innen unsere Übersetzungen lesen werden und über die vielen Gesichter und Facetten Chinas staunen. Vielleicht erreichen unsere Bücher sogar unsere außenpolitischen Strateg*innen, und vermögen, diesen einen  Ansatzpunkte dafür zu bieten, ein nachhaltigeres, differenzierteres China-Bild in Deutschland zu verankern. Letztlich ist es aber vor allem auch an uns Wissenschaftler*innen den Wissenschaftsaustausch mit den chinesischen Kolleg*innen gerade in diesen Zeiten bewusst zu suchen, und –– soweit möglich –– losgelöst vom beschränkenden Blick der eigenen Auslegungstraditionen wichtige neue Perspektiven auf die Vielheit und Vielfalt China’s zu gewinnen. Das gilt vielleicht ganz besonders für die Rechtswissenschaft und hieran anknüpfend die Rechtsgeschichtswissenschaft: In kaum einer anderen Disziplin gab es so viele Begegnungsmomente zwischen China und Deutschland wie in der Welt des Rechts. Insoweit freue ich mich bereits auf Buch drei unserer Reihe „Rechtsherrschaft und Tugendherrschaft. Beobachtungen zur chinesischen Rechtsmodernisierung“ (论法治与德治:对中国法律现代化运动的内在观察)“ von Liang Zhiping. Professor Liang untersucht in seinem Buch das chinesische Rechtssystems aus der Innenperspektive, einerseits mit Blick auf die historisch gewachsene Rechtskultur, andererseits mit Blick auf die Rechts- und Tugendherrschaft als wichtigem Element der Parteiideologie sowie die dazugehörigen rechtswissenschaftlichen Meinungsbilder.

 

 

Mehr Lesen: China – Normen, Ideen, Praktiken (Campus Verlag)

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