Die Vermutung der Vollständigkeit und Richtigkeit von Vertragsurkunden
Historischer Rechtsvergleich und Perspektiven für die Rechtsvereinheitlichung

Promotionsprojekt

„Wer schreibt, der bleibt!“ - mit dieser prägnanten Formel versuchen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte ihrer Mandantschaft zu erklären, wie wichtig die Verschriftlichung getroffener Vereinbarungen für den Ausgang eines Prozesses sein kann. Dem Grunde nach spielt es zwar keine Rolle, ob eine Vereinbarung schriftlich festgehalten ist oder nicht: Nach materiellem Recht gilt Formfreiheit, das Prozessrecht sieht die Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung vor. Daher präjudiziert die Art des Beweises noch nicht dessen Beweiskraft. Dennoch gelten Vertragsurkunden als besonders sicheres Beweismittel und als besonderer Ausdruck davon, dass sich die Parteien an ihre Vereinbarung auch gebunden fühlen.

Dem verbreiteten Bedürfnis, durch Vertragsurkunden ein gesteigertes Maß an Rechtssicherheit zu erlangen, trägt die Rechtsprechung durch die sogenannte Vermutung der Vollständigkeit und Richtigkeit Rechnung. Diese Rechtsregel, welche die Beweislast derjenigen Partei auferlegt, welche behauptet, eine Vertragsurkunde sei unrichtig bzw. gebe die Vereinbarung nur unvollständig wieder, hat eine besonders hohe Praxisrelevanz. Denn von der Beweislastverteilung hängt häufig ab, wer den Prozess gewinnt. In Frankreich und England entstanden im 16. bzw. 17. Jahrhundert bereits Regelungen, die Beweise gegen Vertragsurkunden nur eingeschränkt oder gar nicht zuließen. Referenzen auf die Vermutung der Vollständigkeit und Richtigkeit gehen auf die Rechtsprechung des Reichsgerichts und verschiedener anderer Obergerichte innerhalb des 19. Jahrhunderts zurück. Ferner bestanden vor Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches gesetzliche Regelungen in einigen deutschen Partikularstaaten, welche Vertragsurkunden eine gesteigerte Beweiskraft einräumten.

Ziel des Forschungsprojekts ist es, herauszufinden, wie und in welchem Zusammenhang sich die Vermutung der Vollständigkeit und Richtigkeit entwickelt hat und ob sich Querbezüge zwischen verschiedenen Rechtsordnungen aufzeigen lassen. Es geht ferner darum, zu ergründen, aus welcher Motivation heraus eine derartige Regelung für notwendig erachtet wurde. War es etwa die Gefahr des Prozessbetruges durch die Zulassung des Zeugenbeweises, wie dies einige Quellen nahelegen? Oder sorgten die ab dem Spätmittelalter zunehmende Verbreitung der Schriftlichkeit und der ab der frühen Neuzeit einsetzende Buchdruck auch für ein größeres Vertrauen in schriftlich abgefasste Verträge? Handelt es sich um die Übernahme eines Handelsbrauchs oder kommt die besondere Dignität der Vertragsurkunden daher, dass Verträge durch sie Teil der gegenständlichen Welt zu werden scheinen? Schließlich stellt sich die Frage nach der Einbettung der Vermutung in die heutige Rechtsdogmatik bzw. ob für eine derartige Regelung überhaupt noch eine Notwendigkeit besteht. Weiterhin soll es darum gehen, durch einen Vergleich mit Regelungen in anderen Rechtsordnungen eine kritische Würdigung der Vorschriften über Vollständigkeitsklauseln in internationalen Regelwerken vorzunehmen.

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